Zwölf Jahre nach dem Gewinn der Bronzemedaille bei den Paralympics in London möchte Jürgen Schrapp mit den deutschen Sitzvolleyballern noch einmal aufs Siegerpodest. Seine siebten Spiele sollen für den Leverkusener im Nachbarland ganz besondere werden, zumal Schrapp das Nationalteam als Kapitän anführt.
Jürgen Schrapp hat vor wenigen Tagen seinen 50. Geburtstag gefeiert. In der Rückschau kann er mit Stolz behaupten, dass er bereits mehr als sein halbes Leben lang für die Nationalmannschaft spielt. 1993, im zarten Alter von 19 Jahren wurde er erstmals nominiert, seitdem hat er 395 Länderspiele absolviert und an zehn Europa- und sechs Weltmeisterschaften teilgenommen. Die Spiele in Paris sind überdies seine siebten Paralympics. Als einer von wenigen Sportlern kann der Leverkusener behaupten, seit 1996 in Atlanta mit Ausnahme von Peking bei allen Spielen dabei gewesen zu sein – damals wie heute gehört Schrapp zu den Stützen im deutschen Team. „Jürgen zählt seit Jahren zu den besten Sitzvolleyballern. Technisch und vor allem taktisch spielt er noch immer auf höchstem Niveau“, sagt Bundestrainer Christoph Herzog über seinen Routinier und Kapitän, der sich trotz seines fortgeschrittenen Alters im Team mit zum Teil deutlich jüngeren Kollegen immer noch wohl fühlt.
Dass zwischen ihm und Mathis Tigler beispielsweise 22 Jahre Altersunterschied liegen, spielt keine Rolle. Sein Leverkusener Teamkollege kam 1996 zur Welt, als Schrapp gerade seine ersten Paralympics spielte. „Es gibt wenige Sportarten, die man mit 50 noch auf Leistungssport-Niveau betreiben kann. Sitzvolleyball ist zwar extrem schnell, aber man kann mit Erfahrung und Antizipation vieles kompensieren“, erklärt der Angreifer. „Ich finde die Sportart einfach super. Sie macht Spaß und lässt sich wunderbar von Menschen mit und ohne Behinderung spielen. Noch dazu hält es einen jung, wenn man mit jungen Leuten zusammen sein und leistungstechnisch mithalten kann.“
Gute Leistungen in der Vorbereitung machen Mut
In Paris eröffnen die Herren am 30. August ihre Vorrunde gegen Brasilien. In den weiteren Gruppenspielen trifft Deutschland auf die Ukraine und das Topteam aus dem Iran. Der Iran sei nach wie vor nur sehr schwer zu schlagen, glaubt auch Coach Christoph Herzog, „aber alle anderen Mannschaften sind total auf Augenhöhe.“ Primäres Ziel ist es, die Gruppenphase zu überstehen, danach wartet direkt das Halbfinale. „Wichtig wird sein, die ersten beiden Duelle erfolgreich zu gestalten, um gegen den Iran möglichst nicht unter Druck zu sein“, erklärt Schrapp die Ausgangslage und hält das Weiterkommen für durchaus realistisch. „Wir haben in der Vorbereitung Brasilien 3:0 geschlagen, gegen die Ukraine haben wir kürzlich sechsmal gespielt und fünfmal gewonnen, davon einmal experimentiert.“
Ab dem Halbfinale könne dann alles passieren. „An einem guten Tag sind wir in der Lage, auch die besten Teams schlagen. Ich halte die Top drei absolut für möglich, auch wenn das ein hohes Ziel ist, denn die Spitze ist mittlerweile eng zusammengerückt. Es wird sicher auf die Tagesform ankommen“, prognostiziert Schrapp und fügt an: „Wir haben uns einiges vorgenommen und sind voll auf Medaille gepolt.“
Schrapps siebter Streich bei Paralympischen Spielen soll Deutschland zum Erfolg und zur ersten Medaille seit zwölf Jahren verhelfen. Für die Sitzvolleyballer wäre das nach Bronze in London ein historischer Erfolg – und die Krönung eines sehr erfolgreichen Jahres. Im Oktober schrammte Deutschland nur knapp am EM-Titel vorbei, unterlag in einem Herzschlag-Finale Bosnien 2:3. „Wir waren lange nicht mehr so nah dran, sie zu schlagen“, bedauert Schrapp. „Vielleicht fehlte uns das letztes Quäntchen Vertrauen. Aber das Spiel hat uns gezeigt, dass wir in der Lage sind, die Besten zu besiegen.“
Es folgte Rang drei beim Weltcup in Kairo im November, mit dem Deutschland letztlich das Paralympics-Ticket löste – wenn auch erst mit Verspätung. Da Ägypten Afrikameister wurde, rückte für den Kontinentalmeister nachträglich das bestplatzierte Team des Weltcups nach – und das war Deutschland. Dazu kam der Sieg beim top-besetzten Turnier in Assen (Niederlande), wo fünf der acht für Paris qualifizierte Mannschaften am Start waren. Woher die gute Form kommt? Die Stärken sieht Schrapp im breiten Kader. „Wir können ohne Qualitätsverlust wechseln. Das macht es schwerer, gegen uns zu gewinnen“, erklärt der Sportler des TSV Bayer, der mit sieben Leverkusenern das Gros des Nationalteams bildet. Der Trainerwechsel hin zu Christoph Herzog im vergangenen Jahr habe dem Team einen zusätzlichen Schub verliehen.
Dass ihn der neue Chefcoach wieder zum Kapitän ernannt hat, empfindet der erfahrene Sportler als enormen Vertrauensbeweis. Immerhin hatte sich Schrapp, der fünf Jahre beruflich bedingt in der Schweiz lebte, zeitweise sogar vom Sitzvolleyball verabschiedet. Nach seiner Rückkehr war für ihn selbstverständlich, sich in der Hierarchie erst einmal wieder hintenanzustellen, doch mittlerweile hat sich der 50-Jährige wieder als Führungsspieler etabliert. Schrapp, der mit einer Muskeldystrophie lebt, macht sportlich wie beruflich eindrucksvoll vor, dass es für Menschen mit Behinderungen keine Grenzen gibt.
Schrapp: „Es zeigt, wie sich der paralympische Sport emanzipiert hat“
Seine Führungsqualitäten sind auch bei seinem Arbeitgeber der Bayer AG gefragt. Nach Abschluss seiner Ausbildung zum Industriekaufmann war er in unterschiedlichsten Führungsrollen im Konzerneinkauf im In- und Ausland aktiv, leitet seit 2022 die globale Einführung einer neuen SAP-Landschaft für den Konzern. Für die Teilnahme an den Paralympics in Paris nutzt er seinen privaten Urlaub. „Ich habe das Glück, in einem großartigen Umfeld trainieren und arbeiten zu dürfen. Die Balance aus Sport und Beruf hat für mich immer gepasst“, betont Schrapp, „auch, weil ich tolle Menschen um mich herum habe: Vorgesetzte und Mitarbeiter*innen, die mich unterstützen und mich während meiner sportlichen Aktivitäten flexibel vertreten.“
Der Teamgedanke habe sich auch bei der gemeinsamen Verabschiedung der olympischen und paralympischen Athlet*innen aus Leverkusen durch Bayer-Vorstandschef Bill Anderson widergespiegelt. „Ich bin seit 30 Jahren im Konzern und 30 Jahre im Verein, aber das gab es so noch nie. Mich beeindruckt, dass es keine Grenzen mehr zwischen Paralympics und Olympia gibt“, sagt Schrapp. „Es zeigt, wie sich der paralympische Sport emanzipiert hat. Man darf nicht unterschätzen, dass wir mehr noch als vielleicht im olympischen Sport Vorbilder sind, weil wir zeigen, wie man Grenzen verschieben kann. Deswegen sind Paralympics immer auch Events mit großer Strahlkraft.“
Es gibt nur wenige Athlet*innen auf der Welt, die wie Schrapp die Paralympische Bewegung über so viele Jahre intensiv begleiten. „Mich beeindruckt, welche Dimension die Spiele erlangt haben, sowohl olympische als auch paralympische. Wie viel berichtet wird und wie viel professioneller die Strukturen sind“, betont er, „und wie inklusiv die Spiele inzwischen gedacht werden. Früher war Olympia Olympia – und die Paralympics waren die Paralympics. In Deutschland gibt es inzwischen ein Team D mit einer gemeinsamen Einkleidung, gemeinsamen Kampagnen und Auftritten. Außerdem finden die Spiele am gleichen Ort statt. Viele jüngere Athlet*innen finden das selbstverständlich. Ich kenne das noch anders und empfinde das als großartige Entwicklung.“
Als erste deutsche Mannschaft werden die Sitzvolleyballer am 25. August mit dem Zug von Köln nach Paris reisen. Unterstützt werden sie vor Ort von vielen Freunden und den Familien, die für mächtig Stimmung sorgen wollen. „Die Paralympics in Europa werden ganz besonders. Ich freue mich sehr darauf, endlich wieder Publikum dabei zu haben“, sagt Schrapp voller Vorfreude und ruft dazu auf, zahlreich nach Paris zu kommen. „Die Tickets für die Finalspiele gibt es ab 25 Euro. Das finde ich total fair – und so sollte es doch auch sein. Olympia und Paralympics sind Wettbewerbe fürs Volk. Ich kann daher nur jedem empfehlen: Kommt vorbei, es lohnt sich!“
Text: Stefanie Bücheler-Sandmeier / DBS
Foto: Oliver Kremer / DBS