Die deutsche Rollstuhlrugby-Nationalmannschaft hat beim paralympischen Qualifikationsturnier im neuseeländischen Wellington den letzten Startplatz bei den Sommerspielen in Paris gesichert und darf erstmals seit 2008 wieder an den Paralympics teilnehmen. Im Spiel um Platz drei besiegte das Team von Cheftrainer Christoph Werner Brasilien mit 62:50 und buchte neben Weltmeister Australien und Kanada die Reise in Frankreichs Hauptstadt.
Um 3.07 Uhr in der deutschen Nacht stand fest: Die Rollstuhlrugby-Nationalmannschaft wird bei den Paralympics 2024 mit dabei sein. Auf der anderen Seite der Welt – um 15.07 Uhr Ortszeit im neuseeländischen Wellington – hieß das für den deutschen Cheftrainer Christoph Werner aber auch: Die Haare müssen ab. Das hatte er im Falle der erfolgreichen Qualifikation bereits angekündigt. Und während alle feierten, legte der Coach einen Stopp unter dem Rasierapparat ein. Dann gab er – mit Glatze – den Party-Starter: „Ich verspüre Freude und Erleichterung, es ist ein wilder Mix aus Gefühlen. Ich bin sprachlos, es ist ein Traum, der da gerade wahr geworden ist.“
„Endspiel“ gegen Überraschungsmannschaft Brasilien
Werner, vor 16 Jahren in Peking bei der letzten deutschen Paralympics-Teilnahme selbst noch als Spieler dabei, hatte sein Team akribisch auf das stark besetzte Qualifikationsturnier vorbereitet, das letztlich Weltmeister Australien in der Overtime dank eines 49:48 gegen Kanada gewann. Früh legte er sich fest, dass hinter den beiden Über-Mannschaften sein Team das dritte und letzte von insgesamt acht Paris-Tickets lösen sollte. Immer wieder äußerte er die Vermutung, dass im Spiel um Platz drei Gastgeber Neuseeland mit den heimischen Fans im Rücken warten könnte – doch die Kiwis verloren alle Vorrundenpartien.
Die Deutschen, die in der Gruppenphase Kolumbien mit 58:51 und die Schweiz mit 57:50 besiegt hatten und sich Australien 43:60 geschlagen geben mussten, hätten als Gruppenzweiter schon gegen Kanada das Ticket lösen können, verloren aber das Halbfinale mit 41:58. So wurde die Bronze-Partie gegen die Überraschungsmannschaft aus Brasilien zum alles entscheidenden Duell – und die Südamerikaner zeigten direkt, warum sie sich dieses Endspiel um die Paralympics-Teilnahme verdient hatten.
Deutschland dreht die Partie und zieht im dritten Viertel davon
Vor allem der äußerst schnelle Gabriel Feitosa de Lima stellte das deutsche Team zu Beginn vor große Herausforderungen, teils zogen die Brasilianer im ersten Viertel auf drei Tore davon. In den Schlusssekunden des ersten Abschnitts kämpfte sich das deutsche Team um Marco Herbst, Josco Wilke, Steffen Wecke und Britta Kripke immerhin wieder auf 16:17 heran und ging im zweiten Viertel beim 26:25 erstmals in Führung. Mit 32:30 ging es in die Pause – es war ein echter Krimi.
Im dritten Viertel schwanden dann die brasilianischen Kräfte, die deutsche Defensive stellte sich besser auf das Angriffsspiel der Südamerikaner ein und die Werner-Auswahl kombinierte sich immer wieder ganz stark zu Toren, sodass sie auf 49:40 davonzog. Paris war nun in Reichweite. Im Schlussviertel konnte Christoph Werner sogar alle Spielerinnen und Spieler noch einwechseln, am Spielausgang änderte sich nichts: 62:50 – Deutschland fährt erstmals seit 2008 wieder zu den Spielen und ist nach den Sitzvolleyball-Herren die zweite Mannschaft, die für das Team Deutschland Paralympics qualifiziert ist
„Geschlossene Mannschaftsleistung“ als Erfolgsrezept
„Als der Schlusspfiff kam, war das unfassbar“, sagte Josco Wilke: „Ein Kindheitstraum geht in Erfüllung. Ich glaube, ich realisiere das erst, wenn ich mit dem Team tatsächlich nach Paris fahre.“ Top-Scorer Marco Herbst ergänzte: „Es war eine grandiose Teamleistung. Von Anfang an haben wir an uns geglaubt und das durchgezogen. Und deshalb fahren wir nach Paris.“ Und Britta Kripke jubelte: „Was wir geschafft haben, ist mega. Es ist so eine Freude, die ich gar nicht in Worte fassen kann. Wir haben so lange darauf hintrainiert, und nun haben wir dieses Ziel erreicht. Es ist einfach nur geil.“
Während das Team ausgelassen feierte, gewährte Christoph Werner noch einen Einblick in seine Gefühlswelt: „Es ist eine Riesenlast, die mir da heute von den Schultern gefallen ist und die ich stets versucht habe, von der Mannschaft fernzuhalten. Ein Riesendruck hat auf mir gelastet. Der ist jetzt weg. Jetzt geht es nach Paris.“ Der Schlüssel zum Erfolg war für den deutschen Cheftrainer „die geschlossene Mannschaftsleistung. Das gesamte Team hat wie eine Eins zusammengespielt, jedes Glied hat gepasst. Es war fantastisch, wie alle zusammengearbeitet haben.“
Rollstuhlbasketball-Teams und Sitzvolleyball-Damen könnten folgen
Und auch die Unterstützung aus der Heimat blieb nicht unbemerkt, selbst Public Viewings wurden organisiert, wie Videos auf Instagram zeigen. Werner: „Wir hatten einen Super-Support aus Deutschland, auch von allen Teammitgliedern, die zu Hause bleiben mussten. Alle haben ihren Teil dazu beigetragen. Ein Riesendank geht vor allem an meine Frau, dass sie mir immer die Zeit gegeben hat, das durchzuziehen. Und ein Danke geht natürlich an unsere Partner und Förderer, die uns immer unterstützt haben.“
Somit ist Deutschland wie Gastgeber und Europameister Frankreich, Paralympics-Sieger Großbritannien, der EM-Dritte Dänemark, Asienmeister Japan und die USA als Gewinner der Parapanamerikanischen Spiele sowie Weltmeister Australien und Kanada als achtes Team in Paris dabei und könnte auch den anderen Mannschaftssportarten im Team D Paralympics Aufschwung geben: Im April spielen beide Rollstuhlbasketball-Teams und die Sitzvolleyball-Frauen um die Paralympics-Qualifikation – die Rollstuhlrugby-Nationalmannschaft hat vorgemacht, wie es geht.
Foto: Chérie Harris