2024 ist bislang DIE Saison von Gina Böttcher: Die 23 Jahre alte Para Schwimmerin vom SC Potsdam befindet sich in bestechender Form und untermauerte dies im April bei den Europameisterschaften auf Madeira. In Funchal schwamm Böttcher zu drei Goldmedaillen: über 150 Meter Lagen, 50 Meter Rücken und 50 Meter Freistil. In Paris will sie vor allem eines: Bestzeiten schwimmen. Gina Böttcher – eine junge Dame, die im Wasser und im Auto das Gefühl von Freiheit verspürt und inzwischen selbstbewusst auf ihrem Skateboard durchs Leben rollt.
„Ein Mal Gold war schon krass, aber dass ich dann drei Goldmedaillen holen konnte – Wahnsinn. Mittlerweile habe ich das realisiert“, sagt Gina Böttcher rückblickend, für die der persönliche EM-Rückblick immer noch ein „unwirkliches Gefühl“ auslöst. Und das, obwohl die 23 Jahre alte Athletin bereits 2023 bei den Weltmeisterschaften in Manchester drei Mal jubelte: Denn auch hier gab es auf den beiden paralympischen Strecken Böttchers, 150 Meter Lagen (Silber) und 50 Meter Rücken (Bronze), jeweils Edelmetall – dazu auch über die 100 Meter Freistil (Bronze).
„Gina gehört für mich zur erweiterten Weltspitze“, sagt Ute Schinkitz, die Bundestrainerin der deutschen Nationalmannschaft im Para Schwimmen. „Sie ist auf einem sehr guten Weg, das maximal Mögliche, was sie durch Training und ganz bewusste Mitarbeit herausholen kann, auch herauszuholen.“ An dieses Maximum kann Böttcher, die ohne Unterarme und Unterschenkel zur Welt gekommen ist, gelangen, weil sie sich immer wieder aktiv im Training mit einbringt und auch Dinge hinterfragt. „Sie ist sehr selbständig und selbstbewusst geworden in den vergangenen Jahren“, freut sich Schinkitz über die Entwicklung der 23 Jahre alten Studentin der Sportwissenschaften. „Es ist richtig schön zu sehen, wie viel sie sich inzwischen zutraut.“
Bei Wettkämpfen immer mit dabei: Böttchers Skateboard
Früher benötige Böttcher noch Hilfe bei alltäglichen Dingen, musste beispielsweise auch mal mit dem Rollstuhl geschoben werden. „Darüber hat sie sich möglicherweise noch ab und an geärgert“, erzählt die Bundestrainerin. Die meiste Zeit in Trainingslagern oder auch an Wettkampfstätten bewegt sich die dreimalige Europameisterin von Madeira mittlerweile allein fort – und deutlich flotter: Die in Brandenburg an der Havel geborene Schwimmerin gibt gerne auf ihrem Skateboard Gas. Die besonders gute Form im Jahr 2024 hat Böttcher auch deshalb, weil sie seit März durchtrainieren ohne Probleme konnte. „In den vergangenen beiden Saisons war ich immer ein bisschen krankheitsanfällig, jetzt läuft es deutlich besser“, sagt die Athletin vom SC Potsdam, die sich auf Lanzarote und Belek noch den Feinschliff für die Paralympics in Paris holt. Auf der spanischen Insel „machen wir hohe Umfänge und auch härtere, intensivere Serien“, berichtet Böttcher über die zehn bis zwölf Einheiten, die auf Lanzarote mit ihrem Heim- und Stützpunkttrainer Maik Zeh anstanden. In Belek betreuen dann Schinkitz und Michael Pechtl, der Co-Bundestrainer Diagnose, die 23-Jährige, die vor der Abreise nach Paris noch ein paar Tage bei ihrer Familie in Potsdam verbringen kann.
Böttchers leibliche Eltern gaben sie direkt nach der Geburt ab. „Ich weiß auch nicht viel darüber“, sagte Böttcher dem Deutschlandfunk in einem Interview. „Ich weiß nur, dass sie das nicht so erwartet hatten und nicht wussten wie sie mit mir umgehen sollen. Daraufhin haben sie mich in eine Pflegefamilie kommen lassen und seitdem bin ich in Pflegefamilien aufgewachsen.“ Seit sie ein halbes Jahr alt ist, lebt die Para Schwimmerin bei ihrer jetzigen Familie.
Neben dem Leistungssport peilt Böttcher nach ihrem Bachelor in Sportwissenschaften eventuell noch einen Master an. „Vielleicht geht es in Richtung Ernährung. Ich wollte eigentlich mal Trainerin werden, aber mittlerweile weiß ich nicht mehr, ob ich wirklich Lust darauf habe“, erzählt die von der Deutschen Sporthilfe als Athletin des Monats April ausgezeichnete Schwimmerin. Eine Idee dabei: ein Fitnessstudio für Menschen mit Behinderung zu eröffnen. Doch die Zeit nach der Schwimmkarriere fühle sich noch sehr weit weg an.
Im Hier und Jetzt liegt der volle Fokus auf Paris, der Trainingsarbeit an Land – und natürlich im Wasser. „Dort bin ich einfach frei, da kann ich sein, wie ich bin. Da kann ich mein Ding machen und muss niemanden um Hilfe fragen.“ Auch beim Autofahren spürt Böttcher „ein Gefühl von Freiheit. Ich fahre gerne Auto und bin viel unterwegs.“ Oft fährt sie zu Freunden, geht mit ihnen Essen, versucht fast täglich, etwas mit ihnen zu unternehmen. Nach den Paralympics steht ein kleiner Urlaub an, um sich alles in Paris anschauen zu können.
Böttcher ist voll fokussiert und will in Paris „Bestzeiten schwimmen“
Die Wettkämpfe Ende August und Anfang September sind die zweiten Paralympics für die Potsdamerin. „Ich glaube, Paris wird etwas ganz, ganz anderes als Tokio. Das wird ein total anderes Feeling“, betont Böttcher, die sich besonders auf Zuschauer freut, darunter auch ihre Familie. Trotz sechs Mal Edelmetall bei den vergangenen beiden großen Wettkämpfen (EM und WM) möchte Böttcher nicht von Medaillen reden: „Ich will mich auf jeden Fall verbessern im Vergleich zu Tokio.“ Über die 150 Meter Lagen hatte sie 2021 das Finale verpasst, auf den 50 Metern Rücken wurde sie in der Hauptstadt Japans Sechste. Aufgrund der noch folgenden Klassifizierung der verschiedenen Startklassen lässt sich aktuell gar nicht genau sagen, wer überhaupt in Böttchers Startklasse antreten wird, wenn es in der La Défense Arena, eigentlich ein Rugby-Stadion im westlichen Pariser Vorort Nanterre, ernst wird. „Wenn eine Medaille drin ist, dann ist das schön. Wenn nicht, dann ist das so. Dann klappt es ja vielleicht in 2028 in Los Angeles“, sagt Böttcher.
„Das klingt auch gut“, findet Bundestrainerin Schinkitz, als sie von den Plänen ihrer Athletin bei den Paralympics in Los Angeles in vier Jahren hört. „Das traue ich ihr auf jeden Fall zu. Wenn Gina weiterhin so konzentriert und konsequent arbeitet, hat sie das Potential dazu.“ Doch im deutschen Team gilt in Paris oder Los Angeles wie bei jedem großen Wettkampf: „Wir konzentrieren uns auf unsere eigene Leistung, schauen nicht auf Klassifizierungen und andere Dinge, die wir nicht beeinflussen können“, sagt Schinkitz. Und genau diesen Fokus scheint auch Böttcher wenige Wochen vor Paris zu haben: „Ich will Bestzeiten schwimmen. Und da bin ich auf einem ganz guten Weg.“ In einer Saison, die bislang vollkommen nach dem Geschmack von Gina Böttcher verläuft.
Foto: Ralf Kuckuck / DBS